Nachtfahrten
Die Macht der Nacht: 14 Jazz-Nocturnes des „vollkommenen Klaviermeisters“ (FAZ): geheimnisvoll, lyrisch, magisch
Am Anfang war ein Buch, „Nachtmeerfahrten“. Thema war die Schwarze Romantik, jene Seite der Romantik, die im Nachtschatten gedeiht und im wohligen Gruseln der Fantasy nachhallt. Eine Streichung weiter stand schon ein Titel fest: „Nachtfahrten“. Michael Wollny ist ein Freund der Nacht. In der Nacht sind Katzen grau, nachts verschwimmen die Kontraste und die Affekte treten über die Ufer der Vernunft: Angst und Freude, Wut und Trauer, Leidenschaft und Wahnsinn – verheißungsvoll und beängstigend.
Seit fast zehn Jahren hat „der derzeit aufregendste deutsche Jazzpianist“ (Die WELT) mit dem Schlagzeuger Eric Schaefer die Kunst des Nahkampfs, das kommunikative Spiel von Aktion und Reaktion im Trio in viele Richtungen gedreht, bevor ihm im vergangenen Jahr ein großer Publikumserfolg gelang. Mit „Weltentraum“ hatte er sich – ohne jeden Abstrich bei der Raffinesse und der stilistischen Breite seines Spiels, das sich seine Anregungen ebenso selbstverständlich bei Coldplay holt wie bei Schubert oder Messiaen, von Monk oder Evans ganz zu schweigen – vor der Jazztradition, ihrer Vorliebe für Songstrukturen, vor gesanglichen Melodien sowie mitreißenden Grooves verbeugt und zum ersten Mal ein größeres Publikum erreicht. Zahlreiche Auszeichnungen und gleich drei ECHO Jazz folgten. Aber Wollny ist Musiker genug, sich nicht auf einem Erfolgsrezept auszuruhen. Mit dem Federstrich war ihm, noch ohne, dass ihm das bewusst gewesen wäre, die Methode zugeflogen, mit der er mit dem geplanten Album musikalisches Neuland erkunden konnte: Reduktion. „Irritation“, so erläutert er heute, „wird erzeugt, indem man etwas wegnimmt“. Und damit war ein Schlüssel ins Schloss gefallen: die Assoziationsmaschine war in Gang.
Mit Eric Schaefer sichtete Wollny Skizzen, Ideen und Motive seiner Klangwerkstatt, kombinierte Altes mit Neuem, Fremdes mit Eigenem und Stück für Stück fügten sich in Zusammenarbeit mit Produzent Siggi Loch die Teile ineinander: Filme, Literatur, Malerei, Philosophisches, Ästhetisches, Privates – für alles gab es eine zwangsläufige, musikalische Entsprechung. Es ist kein Zufall, dass der Album-Opener von Fragen spricht. „Questions in a World of Blue“, eine Adaption von Angelo Badalamentis Twin-Peaks-Musik, macht von Anfang an klar, dass sich hinter den Türen, die dieses Album öffnet, Räume befinden, die keine routinierten Antworten erkennen lassen.
Mit einigen „vergifteten Dur-Akkorden“, die etwas Ungewisses durchscheinen lassen, umreißt Wollny die Szenerie, während Schaefer seinem Drumset nur einige zart geräuschhafte Besenbewegungen entlockt und der Bassist Christian Weber mit geschmeidigen Ton die Kanten schärft. Es ist eine Spielhaltung, wie man sie von Wollny bisher nicht kennt, eine Musik des Zustands, nicht der Entwicklung, ein Schweben der Klänge, die sich in weiten Wellen im Raum verbreiten. Die Improvisation, wie man sie aus der Jazztradition kennt, die Logik der Solo-Entwicklung, harmonische, melodische Raffinesse, Kommunikation, das vertraute Aushandeln im Trio – ist hier außer Kraft gesetzt, um die Klänge sich Schicht für Schicht entwickeln zu lassen. Von „Neon Nocturnes“ spricht Wollny, von in der Dunkelheit leuchtenden Stillleben, eigenwilligen Klangbildern, in denen sich die Resonanz der Töne entfalten kann. Fragen, die offen bleiben und neue Fragen erzeugen.
Merkwürdige, erkennbar künstliche Orte nimmt Wollny zum jeweiligen Anlass für eine „Nachtfahrt“: Twin Peaks, das Bates-Hotel aus Psycho, das Tal der Schlösser in E.A. Poes Erzählung „Metzengerstein“. In der Künstlichkeit sind schon die zukünftigen Brüche zu ahnen. Offenbar ist diese komplexe Vieldeutigkeit zwischen vordergründig einfachen Bewegungen eine Herzenssache, die Wollny mit diesem Album für sich entdeckt hat. Möglicherweise haben sie einen Ursprung in einer Musik von Chris Beier, bei dem Michael Wollny an der Musikhochschule in Würzburg studierte. Beier erkrankte damals an fokaler Dystonie, einer Krankheit, die es ihm unmöglich machte, die eintrainierten Bewegungen abzurufen. So hat Beier seine Musik taktweise ausgeschrieben und eingespielt, spürbar stockend und gebrochen, doch dabei klar, reduziert und von unglaublicher Intensität. „Der Geist dieser Musik hat mich umgehauen“ erzählt Michael Wollny. Es ist dieser Geist der kraftvollen Reduktion, der auch „Nachtfahrten“ vom ersten bis zum letzten Ton innewohnt.
Michael Wollny / piano
Christian Weber / bass
Eric Schaefer / drums
Recorded, mixed and mastered by Adrian von Ripka
at Bauer Studios, Ludwigsburg, Germany, August 18 – 21, 2015
Produced by Siggi Loch
Cover Photo by Jörg Steinmetz